Goethe: Faust (Interpretation)

Vorbemerkung: Diese Darstellung von Goethes Faust-Tragödie wendet sich in erster Linie an Neugierige, die sich für dieses außergewöhnliche Drama interessieren, an Schülerinnen und Schüler, an theaterinteressierte „Laien“. Eine erste Orientierung kann sie auch für Studierende der Literaturwissenschaft bieten, eine vertiefende wissenschaftliche Auseinandersetzung ersetzt sie keinesfalls.

1. Zur Stoffgeschichte

1.1 Mythos und Wirklichkeit - der geschichtliche Faust

Faust, die berühmteste literarische Figur Johann Wolfgang von Goethes, ist nicht seine Erfindung. Ausgangspunkt aller Faust-Dichtungen war ein Mann namens Georg (oder Jörg) Faust, der wahrscheinlich um 1480 in der württembergischen Stadt Knittlingen geboren wurde und schon zu Lebzeiten als „bunter Hund“ galt. Erzählt man von seinem Leben, hat man sich schon in den Bereich der Fiktion begeben, denn was als Biographie ausgegeben wird, ist größtenteils Sage. In Krakau soll Georg Faust Magie studiert haben. Dann wanderte er durch Deutschland und machte überall, wo er auftauchte, auf sich aufmerksam, sowohl im positiven wie auch im negativen Sinn des Wortes. Er rühmte sich verschiedener magischer Fähigkeiten, zum Beispiel der Handlesekunst, der Luft- und Feuerdeutung, der Astrologie und Totenbeschwörung sowie der heilkundigen Harnbeschau, einer vorwissenschaftlichen Form der Urologie.
Faust behauptete angeblich, die Wunder Christi wiederholen zu können. In Erfurt hielt er Vorlesungen, bei denen er die Helden aus Homers Epen materialisiert haben soll. Von erfolgreichen Flugversuchen in Venedig wurde erzählt und davon, dass Faust für den Kaiser durch Zauberei in Oberitalien militärische Siege erfochten haben soll. Nachweisbar ist, dass er aus Ingolstadt und Nürnberg ausgewiesen wurde und eine Anstellung als Schulmeister wegen Knabenverführung verlor. Ein Franziskaner versuchte Faust zum Guten zu bekehren, aber Faust antwortete angeblich, er habe einen Teufelspakt geschlossen und sei dazu entschlossen, die Vereinbarung einzuhalten. Allerdings dürfte die Kirche die fragwürdigen Künste des Georg Faust nicht nur negativ beurteilt haben. Fürstbischof Georg III. von Bamberg ließ sich von Faust die Sternzeichen seiner Geburt deuten und zahlte dafür, wie dem bischöflichen Rechnungsbuch zu entnehmen ist, immerhin zehn Gulden. Zwischen 1536 und 1539 dürfte Georg Faust gestorben sein, wahrscheinlich in Verelendung.

1.2 Der literarische Faust

Es ist leicht nachzuvollziehen, dass schon zu Lebzeiten dieses merkwürdigen Menschen auf den Stadt- und Marktplätzen, in den Dorfschenken und Braukellern Geschichten über Faust erzählt wurden, bei denen – ähnlich wie in der heutigen Regenbogenpresse – die Grenze zwischen Sage und Realität fließend war. Bereits in den fünfziger Jahren des 16.Jahrhunderts wurden in Erfurter Universitätskreisen Faust-Geschichten in deutscher und lateinischer Sprache aufgezeichnet und vor allem durch Studenten verbreitet.

„Historia von Doktor Johann Fausten“ – das Volksbuch

1587 erschien ein Volksbuch über Faust, die erste große Sammlung von Faust-Geschichten. Wer sie gesammelt und niedergeschrieben hat, wissen wir nicht. Gedruckt wurde diese HISTORIA VON DOKTOR JOHANN FAUSTEN von Johann Spieß in Frankfurt. Das umfangreiche Buch umfasst 69 Kapitel und enthält neben den epischen Teilen auch halbwissenschaftliche Betrachtungen und theologische Belehrungen, deren weltanschaulicher Tendenz wir entnehmen können, dass der Verfasser Protestant war. Eine Kernstelle des Buches ist der Teufelspakt. Faust verpflichtet sich gegenüber dem Teufel für das Jenseits; dafür dient ihm dieser im irdischen Leben 24 Jahre lang. Er erfüllt ihm alle Wünsche außer dem nach der Ehe, führt ihn hinauf in den Sternenhimmel, fährt mit ihm durch Europa, Asien und Afrika und verhilft ihm zur Beschwörung der schönen Helena aus der antiken Sagenwelt des Trojanischen Krieges. Mit Helena hat Faust sogar einen Sohn. Nach 24 Jahren wird Faust vereinbarungsgemäß vom Teufel geholt. Seine Studenten hören in der Nacht ein entsetzliches Klagen und finden in Fausts Zimmer nur mehr einige Zähne und die Augen des Magiers. Sein Leichnam liegt entstellt auf dem Mist.

Faust – ein Bestseller

Das Volksbuch vom Doktor Faust dürfte eine Art Bestseller gewesen sein. Schon zu Beginn des 17.Jahrhunderts erschien ein weiteres Faust-Buch von einem gewissen Georg Widmann. Er erweiterte die ersten Faust-Geschichten und kam dadurch auf stolze 671 Seiten. Faust wurde also wegen des großen Publikumserfolgs weitererzählt, so wie heute erfolgreiche Fernsehserien weitergeschrieben und weitergedreht werden. 1674 übergab Nikolaus Pfitzer eine weitere Faust-Version der Öffentlichkeit, die bis ins 18.Jahrhundert ihre Abnehmer fand.
Noch im späten 16.Jahrhundert bearbeitete der englische Dramatiker Christopher Marlowe den Faust-Stoff für die Bühne. Durch die englischen Komödianten, die im 17.Jahrhundert auch auf dem Kontinent erfolgreich waren, wurde der dramatisierte Faust-Stoff zurück nach Deutschland gebracht. Verschiedene Fassungen für die Puppenbühne waren im 18.Jh. verbreitet. Man kann also getrost sagen, dass Faust zu dieser Zeit vor allem ein Stoff der Unterhaltungskultur war, und es verwundert nicht, dass ernsthafte Autoren davor gewarnt wurden, sich an eine Bearbeitung des Faust-Stoffes zu machen, weil ein kritisches Publikum nur mehr in Hohn und Spott ausbreche, wenn von der Bühne herunter der pathetische Warnruf „O Fauste!“ erschalle.
Dennoch interessierten sich im 18.Jh. deutsche Schriftsteller wieder für den Fauststoff – und zwar nicht die schlechtesten. Der erste war Gotthold Ephraim Lessing, der eine Dramatisierung des alten Stoffs versuchte. Lessings Faust-Drama blieb allerdings ein schmales Fragment. Friedrich Maximilian Klinger, der Stürmer und Dränger, schrieb den Roman FAUSTS LEBEN, TATEN UND HÖLLENFAHRT (1791), und in den frühen siebziger Jahren des 18.Jhs. machte sich jener Autor an den Faust-Stoff, der soeben erst mit seinem Briefroman „Die Leiden des jungen Werthers“ innerhalb weniger Wochen zum neuen Star der europäischen Literaturszene geworden war: Johann Wolfgang von Goethe.

2. Zur Entstehungsgeschichte von Goethes Faust-Dichtung

In der ersten Hälfte der siebziger Jahre schrieb Goethe sein erstes Faust-Drama. Es wurde nicht veröffentlicht und erst 1887 in der Abschrift eines Weimarer Hoffräuleins wiederentdeckt. Dieses frühe Faust-Drama Goethes wird URFAUST genannt. Goethe verlor in den nächsten Jahren das Interesse an diesem Stoff, veröffentlichte allerdings 1790 erstmals in einer mehrbändigen Werkausgabe „Faust. Ein Fragment“. Nicht zuletzt auf Anregung des Freundes Friedrich Schiller nahm Goethe in den neunziger Jahren die Arbeit am Faust wieder auf und beendete den ersten Teil der Tragödie 1806. Aber bereits vor der Fertigstellung des ersten Teils hatte Goethe Notizen zu weiteren Szenen angelegt. Faust sollte ihn sein ganzes Leben lang begleiten. Seit 1816 arbeitete er, abgesehen von wenigen Unterbrechungen, wieder regelmäßig an der Fortsetzung der Tragödie. Zu Beginn des Jahres 1832 hielt er die Arbeit im Wesentlichen für beendet. Wenige Wochen nachher starb der Zweiundachtzigjährige.

3. „Faust. Der Tragödie erster Teil“. Hinweise zum Textverständnis

Seinen 1806 erschienenen „Faust“ leitet Goethe mit einem Gedicht ein, der „Zueignung“:
Ihr naht Euch wieder, schwankende Gestalten!
Die früh sich einst dem trüben Blick gezeigt.
Versuch’ ich wohl euch diesmal festzuhalten?
Fühl ich mein Herz noch jenem Wahn geneigt? (Vers 1-4)
Diese und die folgenden Zeilen sind nur zu verstehen, wenn man die Entstehungsgeschichte kennt. Die schwankenden Gestalten der Faust-Tragödie, die Goethe als junger Schriftsteller mit noch „trübem Blick“ gestaltet hat, nahen sich wieder. Goethe ist sich aber nicht sicher, ob er sich noch einmal an die schwere Aufgabe aufbürden soll. Auch die Freunde und Weggefährten der Sturm-und-Drang-Zeit, denen er damals diese „Gesänge“ vortrug, sind nicht mehr da. Heute sieht er sich mit einem unbekannten Publikum konfrontiert. Wird man ihn überhaupt noch verstehen? Aber die Gestalten drängen sich dem Dichter auf, und er gibt ihrem Drängen nach. Eine neue Faust-Tragödie wird entstehen.
Vor dem Beginn der eigentlichen Faust-Handlung erleben die Zuschauer ein „Vorspiel auf dem Theater“. Goethe lässt darin den Theaterdirektordirektor, den Theaterdichter und einen Komödianten auftreten. Ihrem Gespräch ist zu entnehmen, dass sie mit unterschiedlichen Einstellungen an ihre gemeinsame Arbeit herangehen. Der Theaterdirektor ist vor allem daran interessiert, dass die Kasse stimmt. Er erwartet sich vom Theaterdichter handlungsstarke Stücke, die den Massengeschmack treffen. Der Theaterdichter will von der Masse nichts wissen, denn allzu oft gerät deren Geschmack mit seinen künstlerischen Anliegen in Konflikt. Der schnelle Erfolg sagt über die Qualität einer Dichtung manchmal nicht sehr viel aus. Was der Mitwelt unverständlich bleibt, wird manchmal von der Nachwelt doppelt hoch geschätzt. Von der Nachwelt will aber der Schauspieler nichts hören. Er ist auf die Mitwelt und ihren Beifall, angewiesen. Möglich, dass Dichter erst nach ihrem Tod zu großem Ruhm gelangen, der Schauspieler kann drauf nicht warten.
Erst der „Prolog im Himmel“ bringt die eigentliche Faust-Handlung in Gang. Die Erzengel singen das Lob der Schöpfung, der „Herr“ regiert inmitten seiner Heerscharen die Welt wie ein absolutistischer Fürst der Barockzeit, und er empfängt Mephistopheles, den Teufel, den Geist, der stets verneint. Er stellt dem Lob der Schöpfung durch die Erzengel sogleich seine prinzipielle Kritik gegenüber. „Herzlich schlecht“ findet er alles auf der Erde, und er sieht nur, „wie sich die Menschen plagen“. Die Rede kommt auf Doktor Faust. Mephisto wettet mit dem Herrn, dass er diesen außergewöhnlichen, aber unzufriedenen Mann auf seine Straße führen kann. Der Herr lässt Mephisto freie Hand, Fausts Seele zu gewinnen, denn er weiß, dass Mephisto sein Ziel nicht erreichen wird:
Zieh diesen Geist von seinem Urquell ab,
Und führ ihn, kannst du ihn erfassen,
Auf deinem Wege mit herab,
Und steh beschämt, wenn du bekennen mußt:
Ein guter Mensch in seinem dunkeln Drange,
Ist sich des rechten Weges wohl bewußt. (Vers 323-329)

Szene: Nacht

Seinen unzufriedenen Helden zeigt uns Goethe zum ersten Mal im nächtlichen Studierzimmer. Im berühmten Einleitungsmonolog beklagt Faust sein unerfülltes Leben. Er hat sich alles verfügbare Wissen seiner Zeit angeeignet, hat Philosophie, Juristerei, Medizin und („leider“) auch Theologie studiert und muss am Ende seiner Studien sehen, dass „wir nichts wissen können“. Der wissenschaftlich-rationale Zugang zur Welt, dem sich Faust so lange gewidmet hat, ist allzu begrenzt. Er spürt, dass hinter der Wirklichkeit, die ihm die Wissenschaften aufschließen, eine andere liegen muss. Darum hat er sich nun „der Magie ergeben“ (Vers 377). Er holt das Buch des Nostradamus hervor, erblickt das magische Symbol des Erdgeistes, und tatsächlich gelingt ihm dessen Beschwörung. Aber die Erscheinung überfordert seine Kraft. „...wie nah fühl ich mich dir“ sagt er zum Erdgeist. Der weist ihn aber höhnisch zurück: “Du gleichst dem Geist, den du begreifst / Nicht mir!“ (Vers 512-513). Der Erdgeist verschwindet, Faust bleibt desillusioniert in der Studierstube zurück. Da klopft es. Wagner, Fausts „Famulus“ (=Assistent), besucht den Meister noch zu später Stunde, um von ihm in der Rhetorik unterrichtet zu werden. Für Faust ist Rhetorik ein äußerliches, eitles Unterfangen, dem seine ganze Abneigung gilt:
„Ja, eure Reden, die so blinkend sind,
In denen ihr der Menschheit Schnitzel kräuselt,
Sind unerquicklich wie der Nebelwind,
Der herbstlich durch die dürren Blätter säuselt!“ (Vers 554-557)
Nicht nur über Sinn oder Unsinn der Redekunst, auch über das menschliche Wissen sind Faust und sein Assistent unterschiedlicher Meinung. Wagner ist mit dem Wissen, das er in Büchern findet, durchaus zufrieden. Von den Problemen mit den grundlegenden Grenzen menschlicher Erkenntnis, die Faust quälen, weiß Wagner nichts.
Als Faust wieder allein ist, verdüstert sich sein Gemütszustand so sehr, dass er knapp vor dem Selbstmord steht. Der Tod erscheint ihm als Erlösung aus irdischer Begrenztheit. Entfesselt von materieller Bindung könnte doch sein Geist „Auf neuer Bahn den Äther(...) durchdringen, / Zu neuen Sphären reiner Tätigkeit.“ (Vers 704-705)
Und selbst wenn das Nichts droht, Faust ist entschlossen zu diesem größten Wagnis. Doch da hört er die religiösen Gesänge der Osternacht. Die Auferstehungshoffnung in den frommen Liedern erinnert ihn an den Glauben seiner Kindheit, den er mittlerweile verloren hat. Zutiefst berührt von der Erinnerung macht er seinen Entschluss zum Selbstmord rückgängig.

Szenen: Vor dem Tor / Studierzimmer I und II

Ein schöner, warmer Ostertag lockt Faust und seinen Famulus in die Natur, wo sich das Volk über den Frühlingsbeginn freut. Auch in dieser Szene zeigt Goethe die Unterschiede zwischen den beiden Männern. Wagner begleitet Faust nur, weil ihm der Spaziergang die Möglichkeit zu interessanten Gesprächen eröffnet. Faust hingegen ist zum echten Naturgefühl fähig. Angesichts der untergehenden Sonne äußert er seine Sehnsucht, sich in die Luft zu erheben und einem ewigen Sonnenuntergang nachzufliegen. Wagner, der Rationalist, reagiert auf dieses für ihn unverständliche romantische Gefühl mit dem Satz : „Ich hatte selbst oft grillenhafte Stunden / Doch solchen Trieb hab ich noch nie empfunden.“ (Vers 1100-1101) Wagners befremdeter Reaktion begegnet Faust mit einem berühmten Einwand:
Du bist dir nur des einen Triebs bewußt:
O lerne nie den andern kennen!
Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust,
Die eine will sich von der andern trennen:
Die eine hält in derber Liebeslust
Sich an die Welt mit klammernden Organen;
Die andre hebt gewaltsam sich vom Dust
zu den Gefilden hoher Ahnen. (Vers 1110-1117)

Die berühmten zwei Seelen, von denen Faust spricht, sind Wagner wohl beide fremd. Der „derbe“, sinnliche Genuss der materiellen Welt, das Vergnügen am Natürlichen und Lebendigen, ist Wagner ohnehin unverständlich, aber auch die Sehnsucht nach dem Geistigen, das Faust mit dem Bild „Gefilde hoher Ahnen“ andeutet, verweist wohl auf eine andere Art „Geistigkeit“ als sie Wagner liebt. Wagners Geist ist Ratio, Wissenschaftlichkeit und Gelehrsamkeit; Fausts Geist überschreitet diese Grenze hin zu einer transrationalen Spiritualität.
Es wird Abend. Auf ihrem Heimweg werden Faust und Wagner von einem schwarzen Pudel begleitet, der sich merkwürdig gebärdet. Faust nimmt das Tier mit in sein Studierzimmer. Der unglückliche Gelehrte scheint nun doch zur Ruhe zu kommen. In der Abendstimmung schlägt er die Bibel auf und bekommt Lust, das Evangelium des Johannes aus dem griechischen Original ins Deutsche zu übersetzen: Im Anfang war das Wort... Schon die Übersetzung der ersten Zeile bereitet Faust Probleme. Das altgriechische „logos“ will er nicht - wie üblich - mit „Wort“ übersetzen, denn das Wort schätzt Faust nicht so hoch ein, dass er es an den Anfang alles Seins stellen möchte. Er erprobt noch die Übersetzungsvarianten „Sinn“ und „Kraft“, entscheidet sich aber letztlich für „Tat“. Dass Faust die Tat als Ursprung sieht, hat wohl auch für den Ausgang des Stücks einige Bedeutung und wird in diesem Zusammenhang noch einmal angesprochen werden.
Während Faust das Evangelium übersetzt, knurrt der schwarze Pudel unwillig. Zurechtweisungen nützen nichts, und Fausts Verdacht, dass dieser Pudel von besonderer Art sei, erhärtet sich. Durch einen magischen Akt zwingt Faust den Pudel dazu, seinen wahren Kern zu zeigen. Aus dem Hund wird ein Teufel. Mephistopheles erscheint und bietet – nach kurzem Verschwinden – in der Szene Studierzimmer II Faust ein „Geschäft“ an, den Teufelspakt. Faust willigt ein, obwohl er davon überzeugt ist, dass der Teufel nicht imstande ist, das „hohe Streben“ eines Menschen überhaupt zu begreifen, geschweige denn zu befriedigen. Den Inhalt des Pakts, der mit Blut besiegelt wird, fasst Faust folgendermaßen zusammen:
Werd ich beruhigt je mich auf ein Faulbett legen;
So sei es gleich um mich getan!
Kannst du mich schmeichelnd je belügen,
Daß ich mir selbst gefallen mag,
Kannst du mich mit Genuß betrügen;
Das sei für mich der letzte Tag!
(...)
Werd’ ich zum Augenblicke sagen:
Verweile doch! du bist so schön!
Dann magst du mich in Fesseln schlagen,
Dann will ich gern zu Grunde gehn! (Vers 1692-1702)
Gelingt es Mephisto, Faust ein Erlebnis zu verschaffen, das diesen so sehr befriedigt, dass er sich dessen ewige Dauer wünscht, dann hat er den Pakt erfüllt und bekommt Fausts Seele.

Szenen: Auerbachs Keller in Leipzig / Hexenküche

Vor allem muss Mephisto seinen „Geschäftspartner“ zuerst einmal aus seiner engen Studierstube herausholen und „in lustige Gesellschaft bringen“. Auerbachs Keller scheint ihm dafür geeignet zu sein, aber Faust findet am Zechen und Zotenreißen, an makabren Scherzen und Saufliedern wenig Gefallen. Mephisto ahnt, dass er Faust verjüngen muss, wenn er ihm den schönsten Augenblick durch sinnlichen Genuss verschaffen will. In der Hexenküche leistet eine professionelle Hexe mit einem Zaubertrank ganze Arbeit. Und nun, in deutlich verjüngtem Zustand, verändert sich Fausts Erlebnisfähigkeit ganz entscheidend. In einem Spiegel sieht er eine Frau, die er für wunderschön hält und die er augenblicklich begehrt. „Du siehst mit diesem Trank im Leibe / Bald Helenen in jedem Weibe“ (Vers 2603-2604), spottet Mephisto, hofft aber gleichzeitig, seinem Ziel etwas näher gekommen zu sein.

Szenen: Straße / Abend / Spaziergang / Der Nachbarin Haus / Straße / Garten / Ein Gartenhäuschen / Wald und Höhle / Gretchens Stube / Marthens Garten

Im soeben angedeuteten erotisch aufgeladenen Zustand begegnet Faust erstmals Margarete, einem naiven Mädchen aus einfachen Verhältnissen. „Mein schönes Fräulein, darf ich wagen, / Meinen Arm und Geleit Ihr anzutragen?“ fragt Faust die Vorübergehende, und sie antwortet: „Bin weder Fräulein, weder schön, / Kann ungeleitet nach Hause gehn.“ (Vers 2605-2608) Dass sie behauptet, nicht schön zu sein, mag bloße Koketterie sein, ein Fräulein ist Margarete tatsächlich nicht, denn der Begriff Fräulein bezeichnete auch noch um 1800 junge Damen aus der Aristokratie. Wie auch immer, Faust verlangt von Mephisto, er müsse ihm die „Dirne schaffen“, so schnell wie möglich. Tatsächlich gelingt es Mephisto die Verbindung zwischen Faust und Margarete herzustellen. Er bedient sich zu diesem Zweck vor allem eines Schmuckkästchens, das Margarete gefügig machen soll, und er findet Zugang zu Frau Marthe, Margaretes Nachbarin. Der Garten der Frau Marthe wird zum heimlichen Treffpunkt des Paares.
Frau Marthe ist ein Typus, der an unterhaltsame Schwankdichtung erinnert. Sie ist die unbefriedigte Witwe, die sich wieder einen Mann angeln möchte, die geschwätzige Kupplerin mit der bösen Zunge. Ihre Dialoge mit Mephisto sind durchaus komisch und gipfeln in ihrer Werbung um den scheinbar edlen Fremdling, in dem sie natürlich nicht den Herrn der Hölle erkennt. Mephisto spielt mit ihr eine Weile das Spiel der Geschlechter, muss sich aber letztlich mit Umsicht ihrer eindeutigen Werbung entziehen. Er sagt: „Nun mach ich mich beizeiten fort / Die hielte wohl den Teufel selbst beim Wort.“ (Vers 3004-3005)
Faust und Margarete sind ein recht ungleiches Paar. Hier der Intellektuelle, dort das naive, kleinbürgerliche Mädchen. Die Distanz wird im berühmten Religionsgespräch recht deutlich (Szene „Marthens Garten“). Margarete, die streng nach den Regeln der Kirche erzogen worden ist, fragt Faust, wie er es denn mit der Religion halte. Völlig zu Recht vermutet sie, dass ihr Geliebter „kein Christentum“ habe. Faust versucht Margarete seine „Religion“ zu erklären: Wer kann schon etwas Gültiges über Gott aussagen! Wir sind doch alle, egal ob Priester oder Weise, auf unser Gefühl angewiesen. Dieses mehr oder weniger religiöse Gefühl sei „alles“, der Name, dem wir dem Gefühl geben, sei nebensächlich, sei „Schall und Rauch“: „Nenn’s Glück! Herz! Liebe! Gott! / Ich hab keinen Namen / Dafür!“ Margarete ist durch diese Erklärung, die sie wohl auch nicht zur Gänze versteht, nicht wirklich beruhigt, denn sie ahnt ganz richtig, dass Fausts Religionsauffassung nicht christlich im Sinne der Kirche ist. Warum nicht? Faust hat ja kein personales Gottesbild und kümmert sich nicht um kirchliche Interpretationen und Regeln. Seine Religiosität bleibt – kirchlich betrachtet – im Unverbindlichen. Am ehesten passt dafür der Begriff „Pantheismus“.

Szenen: Marthens Garten / Am Brunnen / Zwinger / Nacht. Straße vor Gretchens Türe / Dom

Im Anschluss an das Religionsgespräch – noch in der Szene „Mathens Garten“ – kommt es zwischen Faust und Margarete zu einer folgenschweren Abmachung. Um endlich eine ungestörte Liebesnacht miteinander verbringen zu können, soll Margaretes Mutter mit einem Schlafmittel vorübergehend aus dem Verkehr gezogen werden.
Das Schlafmittel ist wirksamer als erwartet. Die Mutter erwacht nie mehr. Eine weitere Folge dieser Liebesnacht ist, dass Margarete schwanger wird. In der Szene „Am Brunnen“ wird die bedrückende Lage, in die sie geraten ist, bereits angedeutet. Offensichtlich wird sie in den Szenen „Zwinger“ und „Dom“. Für eine ledige junge Frau ist in dieser Zeit eine Schwangerschaft eine schwere „Schande“, dringend würde Margarete jetzt die Unterstützung und Liebe von Faust brauchen, aber dieser steht nicht zu seinem Kind und dessen Mutter.
Margaretes Bruder Valentin, ein hanebüchener Soldat, dem seine gekränkte Ehre viel wichtiger ist als die Notlage seiner Schwester, kommt nach Hause – aber nicht um seiner Schwester zu helfen, die er als „Hure“ beschimpft, sondern um Rache zu nehmen an Faust. Er fordert ihn zum Duell, aber dem von Mephisto geführten Degen ist Valentin nicht gewachsen. Er wird getötet.

Szene: Walpurgisnacht /Walpurgisnachtstraum / Trüber Tag. Feld / Nacht, offen Feld

Um Faust aus der in mehrfacher Hinsicht unerträglich gewordenen Situation herauszuziehen, nimmt ihn Mephisto mit zur Walpurgisnacht. Die Walpurgisnacht ist der Sage nach die Nacht vom 30.April auf den 1.Mai, in der sich die Hexen und Hexenmeister mit dem Teufel treffen, um eine wüste Orgie zu feiern. Goethe scheute sich nicht, diesen Vorgang zur Bühnenszene zu machen, und er sparte in der Handschrift durchaus nicht mit deftigem Vokabular und obszöner Metaphorik, die allerdings in den „gereinigten“ Faust-Ausgaben keuscher Klassizität meistens gestrichen wurden. Mephistos Hoffnung, er könne Faust im orgiastischen Treiben der Walpurgisnacht seinen schönsten Augenblick ermöglichen, erfüllt sich freilich nicht. Faust wird plötzlich von einer Vision bedrängt, die nicht so recht ins ekstatische Treiben passen will. Er sieht das Bild eines Mädchens, dem der Kopf vom Körper getrennt wird, und erkennt in dieser Erscheinung Margarete. Dem sinnlichen Rausch der Walpurgisnacht folgt die totale Ernüchterung. „Trüber Tag. Feld“ - so überschreibt Goethe die nächste Szene, bezeichnenderweise die einzige Prosaszene des Versdramas. Fausts Gewissen regt sich. Er verlangt von Mephisto, mit ihm gemeinsam Margarete zu retten.

Schlussszene: Kerker

Margarete hat mittlerweile ihr Kind getötet, ist halb wahnsinnig geworden und wartet im Kerker auf ihr weiteres Schicksal. Faust gelingt es zwar mit Mephistos Hilfe zu Margarete vorzudringen, aber sein Rettungsversuch kommt zu spät. Margarete will den Kerker nicht mehr verlassen, insbesondere nicht, als sie Mephisto erblickt. Sie ist bereit, das Urteil, das sie erwartet anzunehmen. Der Morgen dämmert. Mephisto drängt zum Aufbruch. Faust ist verzweifelt, muss aber Margarete zurücklassen. „Sie ist gerichtet“, sagt Mephisto. Eine Stimme von oben korrigiert ihn: „Ist gerettet“. „Her zu mir! schreit Mephisto und zieht Faust mit sich fort. Die Tragödie endet also mit einem offenen Schluss, denn der Ausgang des Paktes zwischen Mephisto und Faust ist nach wie vor ungeklärt. Der schönste Augenblick hat noch nicht stattgefunden, und Goethe setzte seine Bühnengeschichte daher aus gutem Grunde fort.

4. Sprache und dramatische Form

Allein die fast 60-jährige Entstehungsgeschichte von Goethes Faust-Dichtung ist ein Grund dafür, dass wir es nicht mit einem formal und stilistisch homogenen Werk zu tun haben. „Faust. Der Tragödie erster Teil“ entspricht jener offenen dramatischen Bauform, die in der Dramatik des Sturm und Drang üblich war. Es gibt keine Akt-Gliederung, die Einzelszenen werden lose aneinandergereiht, Szenenwechsel und Zeitsprünge sind selbstverständlich, denn die klassische Forderung nach „Einheit von Ort und Zeit und Handlung“ wird bewusst ignoriert, übrigens ganz ähnlich wie in Goethes Jugenddrama „Götz von Berlichingen“.
Goethe nennt sein Werk eine „Tragödie“, und der Grundton des Werks ist tragisch. Aber immer wieder unterläuft ihn Goethe durch komische Akzente, für die vor allem Mephisto sorgt. Faust I ist nicht ausschließlich, aber zum überwiegenden Teil in der Bühnensprache der Sturm und Drang-Dramatik geschrieben: bilderreich und nahe an der Volkssprache. Der Bilderreichtum dient vor allem dem subjektiven Gefühlsausdruck, zum Beispiel in Fausts Monologen.
„Was fasst mich für ein Wonnegraus!
Hier möchte ich volle Stunden säumen.
Natur! Hier bildetest in leichten Träumen
Den eingebornen Engel aus; […]“ (V 2709-2712)
Volkssprache kann man insbesondere in den Szenen erkennen, die im Volk spielen, in der Szene „Vor dem Tor“, in „Auerbachs Keller“, im Umfeld von Frau Marthe und Margarete. Aber auch Mephisto, dem Pathos und hoher Stil zuwider sind, greift gern zum volkstümlichen Sprachgebrauch. Schon seinen Besuch beim Herrn kommentiert er mit dem Satz „Von Zeit zu Zeit seh ich den Alten gern“. Und wenn es um Sexualität und Erotik geht, bedient er sich gern einer deftigen Sprache.
Der Nähe zur Volkssprache entspricht auch die häufige Verwendung des Knittelverses, der aus der Volksdichtung kommt. Der Knittelvers (4 Hebungen, freie Zahl der Senkungen, paarweise gereimt) ist aber nicht das einzige Versmaß, das Goethe im Faust verwendet. Mehrmals geht der Knittelvers in den Madrigalvers über. Das ist zwar auch eine relativ freie Versform, aber die Regelmäßigkeit von Senkung und Hebung ergibt doch eine harmonischere Klangwirkung, als sie der Knittelvers erzeugt. Zum Vergleich zwei Textstellen:

„Heiße Magister, heiße Doktor gar,
Und ziehe schon an die zehen Jahr,
Herauf, herab und quer und krumm,
Meine Schüler an der Nase herum.“ (V. 360-363, Knittelvers)

„O sähst du, voller Mondenschein,
Zum letzten Mal auf meine Pein,
Den ich so manche Mitternacht
An diesem Pult herangewacht.“ (V. 386-389, Madrigalvers)

Wenn Faust Margarete sein Religionsverständnis erklärt (Szene „Garten“), spricht er im freien Rhythmus hymnischer Dichtung. Margaretes Monolog am Spinnrad hat volksliedähnlichen Charakter. Eine Szene „Trüber Tag. Feld“ ist in Prosa geschrieben.
In „Faust. Der Tragödie zweiter Teil“ sind Form und Sprache noch vielfältiger und komplexer. Auf eine Analyse verzichte ich hier. Ich begnüge mich damit, die grobe Handlungsstruktur und einige Schlüsselszenen des zweiten Teils zu erklären.

5. „Faust. Der Tragödie zweiter Teil“. Verständnishinweise zur Handlungsstruktur und zu einigen Schlüsselszenen

Diese Darstellung ist in den meisten Abschnitten übernommen aus Christian Schacherreiter/Ulrike Schacherreiter: Das neue Literaturbuch. 65 Fenster zur Literatur. 1. Auflage, Linz: Veritas 2011

1. Akt

Nach dem schrecklichen Ende des ersten Teils gönnt Goethe seinem Bühnenhelden erst einmal eine kleine Ruhepause. Er legt ihn auf den grünen Rasen einer idyllischen Landschaft. Der Schlafende vergisst, wird geheilt und damit reif zu neuen Taten. Im ersten Teil der Tragödie versuchte Mephisto Faust vor allem durch sinnliche Genüsse das Erlebnis des schönsten Augenblicks zu ermöglichen. Das Ergebnis war dürftig. Mephisto greift zu anderen Mitteln. Er führt Faust im ersten Akt des zweiten Teils zunächst einmal an den kaiserlichen Hof, wo Ratlosigkeit und Verdrossenheit herrscht, denn die Staatskasse ist leer. Der junge Kaiser, für seine schwere, verantwortungsvolle Aufgabe noch zu unreif, ärgert sich vor allem darüber, dass er den Karneval nicht ungestört feiern kann. In dieser Notlage erweist sich Mephisto als fragwürdiger Helfer. Er beseitigt den Hofnarren, tritt selbst in dieser Rolle auf und erfindet für den jungen Kaiser das Papiergeld. So geht eine finanzielle Scheinblüte auf, die später noch fatale Folgen haben wird, denn die Papierscheine sind nicht wertgedeckt. Und jeder einigermaßen finanzpolitisch Gebildete weiß, dass der Druck von nicht wertgedecktem Papiergeld eher früher als später eine Inflation auslösen muss. Vorübergehend ist allerdings alles eitel Wonne, und der „Mummenschanz“ (Karnevalsumzug) kann endlich inszeniert werden.
Während des Festumzugs gerät der Bart des Kaisers in Flammen, Mephisto löscht ihn bravourös mit einem Zauberregen, und als der Kaiser den ersten Schock überwunden hat, möchte er noch mehr magische Kunststücke sehen. Er wünscht sich die Materialisierung des Paris und der Helena. Sie sind Gestalten aus der altgriechischen Sage. Paris soll Helena wegen ihrer Schönheit geraubt und dadurch den Trojanischen Krieg ausgelöst haben. Im Zusammenhang, in den Goethe die beiden Gestalten stellt, sind sie die Urbilder des Schönen. Mephisto weiß um die Schwierigkeiten, die diese Aufgabe mit sich bringt. Die Urbilder des Schönen müssen aus dem sogenannten „Reich der Mütter“ geholt werden. Dieses Reich ist ein rein ideeller Bezirk, in dem es keine Materie, also auch nicht Raum und Zeit gibt. Es handelt sich um  eine im Grunde nicht vorstellbare Welt oder besser gesagt „Nicht-Welt“. Mephisto kann nicht dorthin gelangen, denn er als Teufel ist an die Materie gebunden. Faust muss die magische Unternehmung wagen. Tatsächlich gelingt sie ihm. Paris und Helena erscheinen vor der höfischen Gesellschaft, die allerdings zu oberflächlich ist, um die ganze Größe der Erscheinung zu würdigen. Faust ist von Helena geradezu verzaubert:
„Du bist’s, der ich die Regung aller Kraft,
Den Inbegriff der Leidenschaft,
Dir Neigung, Lieb, Anbetung, Wahnsinn zolle!“
In seiner Hingabe an die Schönheit berührt er Helena. Er löst damit eine Explosion aus, und die Erscheinung ist verschwindet. Für Faust ist aber das Ziel klar. Er muss Helena wiedersehen.

2. Akt

Für Mephisto eröffnen sich dadurch neue Möglichkeiten. Es ist ihm zwar nicht gelungen, Faust in der großen Welt des kaiserlichen Hofes den schönsten Augenblick zu vermitteln, aber vielleicht ist die neuerliche Begegnung Fausts mit Helena der entscheidende Schritt zur Erfüllung der Paktbedingungen.
Bevor die Zeitreise zurück ins alte Griechenland angetreten wird, bringt Mephisto seinen Schützling noch einmal zurück in sein altes Studierzimmer, wo mittlerweile Wagner, der ehemalige Famulus,  Fausts Stelle eingenommen hat. Wagner, der ja immer schon den natürlichen Phänomenen eher mit Abneigung gegenübergestanden ist, ist gerade dabei, einen Traum der Alchemisten wahr zu machen: die künstliche Erzeugung von Leben. Das Produkt aus Wagners aufwendigem Experiment heißt Homunkulus. Es handelt sich also um ein „Menschlein“, das aufgrund seiner Unnatur nur in einem abgeschlossenen Behälter lebensfähig ist, das aber über hohe geistige Fähigkeiten verfügt, Zugang zur antiken Welt hat und Faust und Mephisto mitnimmt auf seine Zeitreise ins griechische Altertum.
Altgriechischen Boden betreten Faust, Mephisto und Homunkulus gerade zur Zeit der „Klassischen Walpurgisnacht“, die mit der Walpurgisnacht des ersten Teils nichts zu tun hat. Die klassische Walpurgisnacht ist der Tummelplatz der antiken Mythologie. Es würde den Rahmen dieser Darstellung weit überschreiten, wollte man das komplexe Geschehen und das umfangreiche Figurenarsenal, das Goethe, ein hervorragender Kenner antiker Mythologie, in der klassischen Walpurgisnacht verwendet und gestaltet hat, auch nur einigermaßen sinnvoll erklären. Aus den Geschehnissen der klassischen Walpurgisnacht sei nur eines herausgegriffen. Homunkulus, dem die Unnatur seines Daseins bewusst ist und der sich nach natürlicher Entstehung sehnt, kommt zum großen Meeresfest, das Nereus für seine Tochter, die schöne Wassernymphe Galatee, veranstaltet hat. Homunkulus sieht Galatee auf ihrem Muschelwagen, wird offensichtlich von großer Sehnsucht erfasst und bewegt sich auf die Schöne unter heftigem Dröhnen und Leuchten zu. Die Anstrengung überfordert ihn. Er explodiert, aber sein Ende wird als eigentlicher Anfang gedeutet. Aus dem Wasser, dem Urstoff des Lebens wird der zerstörte Homunkulus in neuer, natürlicher Gestalt wieder geboren werden. Dieser Vorgang könnte auch ein Streitgespräch klären, das Goethe die Philosophen Thales und Anaxagoras in der klassischen Walpurgisnacht führen lässt. Thales hält das Wasser für den Urstoff allen Daseins, Anaxagoras das Feuer. Homunkulus’ Schicksal scheint beiden Recht zu geben, denn das künstliche Menschlein ist zunächst mit der Kraft des Feuers explodiert, um dann aus dem Wasser in neuer Gestalt hervorzugehen. Die Natur schafft nicht nur mit einer Kraft ihre Gestalten, sondern mit beiden, mit Feuer und Wasser, mit Revolution und Evolution, mit destruktiver Sprunghaftigkeit und organischem Wachstum. Homunkulus hat also seine Erfüllung gefunden, Faust hat allerdings sein Ziel nicht erreicht. Er ist der schönen Helena trotz intensiver Suche im zweiten Akt nicht begegnet, es bedarf also eines dritten.

3. Akt

Goethe führt uns nun zum königlichen Palast in Sparta. Der Trojanische Krieg ist beendet worden, König Menelaos hat seine von Paris geraubte Gattin Helena wieder heimgeholt. Ein Dankopfer soll vorbereitet werden, um die Götter günstig zu stimmen, aber kein Opfertier ist zu sehen. Die alte, hässliche Verwalterin bestärkt Helena und ihre Begleiterinnen in der Befürchtung, sie selbst seien als Schlachtopfer vorgesehen. Hinter der Gestalt der Verwalterin verbirgt sich Mephisto. Er schlägt Helena vor, sie vom spartanischen Königspalast wegzubringen. In der Nähe hätten zugewanderte Germanen eine feste Burg errichtet, und der Burgherr werde ihnen Schutz gewähren. Helena nimmt das Angebot an, und so kommt sie, die Frau aus dem Altertum, nun zu einer gotischen, christlich-abendländischen Burg. Der germanische Heerführer aus dem Norden, von dem der verkleidete Mephisto gesprochen hat, ist kein anderer als Faust. In der Begegnungsszene Faust-Helena deutet Goethe die Vereinigung nicht nur inhaltlich, sondern auch stilistisch an. Helena bewundert den ihr unbekannten Endreim in der Redeweise der Fremden. Faust schlägt ihr vor den Endreim in Wechselrede spielerisch zu üben Faust spricht einen Satz und Helena antwortet mit einem Reimwort, das dem ersten „liebzukosen“ scheint.
Aus der Vereinigung zwischen Faust und Helena geht Euphorion hervor, ein lieblicher Genius. In arkadischer Landschaft scheint die Jungfamilie glücklich vereint, aber Euphorions Übermut zerstört das trügerische Idyll. Er wirft sich zu hoch in die Lüfte und stürzt wie der mythische Ikarus ab. Als die Seele des Toten entschwindet, hört man noch ihre Bitte „Laß mich im düstern Reich, / Mutter, mich nicht allein.“ Helena folgt Euphorion. Die arkadische Landschaft verschwindet, und Faust bleibt - ohne den schönsten Augenblick erlebt zu haben - einsam zurück.
Die Faust-Helena-Handlung ist, wie sehr viele Handlungselemente in Faust II, symbolisch zu verstehen. Faust auf seiner gotischen Burg repräsentiert die christlich-abendländische Kultur, Helena die heidnisch-antike Kultur. Ihre Vereinigung ist ein Bild für den kulturhistorisch nachvollziehbaren Versuch, den Geist der Antike im postantiken Europa wieder lebendig werden zu lassen, die Antike der unter den Bedingungen der „Moderne“ zu adaptieren. Solche Versuche gab es immer wieder, angefangen von der Renaissance bis hin zur Weimarer Klassik des späten 18.Jhs., deren Kunstprogramm ganz maßgeblich von Goethe selbst geprägt wurde. Zur Figur Euphorion, die diese kulturhistorische Synthese von Moderne und Antike symbolisiert, regte Goethe nach eigener Aussage der englische Romantiker Lord Byron an, der aus Begeisterung für Griechenland als Freiwilliger am griechischen Freiheitskampf gegen die Türken teilnahm und dabei den Tod fand.

4. Akt /5. Akt

Faust und Mephisto haben die antike Welt verlassen. Sie stehen auf einem Hochgebirge. Mephisto verweist Faust auf die „Reiche der Welt und ihre Herrlichkeiten“, und fragt, ob ihn denn nach gar nichts gelüste. Diese Szene erinnert an jene Stelle im Evangelium des Matthäus, in der Jesus vom Teufel versucht wird: „Der Teufel zeigte ihm (Jesus) alle Reiche der Welt und ihre Pracht und sagte zu ihm: Das alles will ich dir geben, wenn du dich vor mir niederwirfst und mich anbetest.“ Jesus antwortet schlicht und einfach: Weg mit dir, Satan! Faust antwortet auf Mephistos Frage, er wünsche sich ein Stück Meeresstrand, das er kolonisieren will. Was Faust reizt, ist also nicht der Genuss des Vorhandenen, sondern die Tätigkeit, die schöpferische Gestaltung. Mephisto verschafft Faust das gewünschte Stück Land, und Faust macht sich nun an ein umfassendes Kolonisationswerk.
Der fünfte und letzte Akt von Faust II zeigt uns den Titelhelden als tätigen und mächtigen „Fürsten“ seines Landes, als Handelsherrn, Bauherrn und Gouverneur. Er hat aus dem Meeresstrand einen blühenden, reichen Landstrich gemacht. Die rastlose Kolonisation schafft für viele Menschen gute Lebensgrundlagen, sie  hat aber auch ihre Kehrseiten. Widerstände einzelner werden skrupellos beseitigt. Goethe zeigt diese Kehrseite unternehmerischer Welteroberung in der Philemon-Baucis-Episode. Philemon und Baucis sind zwei alte Menschen, die der neuen Zeit des Fortschritts nichts mehr abgewinnen können, die an den Veränderungen keinen Anteil mehr nehmen wollen. Ihre Hütte steht aber genau an der Stelle, an der Faust einen Aussichtsturm errichten will, von dem aus er sein Lebenswerk überblicken kann. Philemon und Baucis lassen sich durch kein verlockendes Angebot von ihrer alten Hütte weglocken, also muss Mephisto die Sache in die Hand nehmen. Er zündet die Hütte an, und die beiden Alten sterben in den Flammen.
Unermüdlich arbeitet Faust an seinen Plänen und ignoriert, dass sich sein Ende bereits ankündigt. Er ist ja mittlerweile hundert Jahre alt geworden. Mit ungebrochenem Schaffenswillen möchte er noch den letzten großen Sumpf trockenlegen, um auch dort Lebensraum für viele Menschen zu schaffen. Eine letzte große Vision von fruchtbarem, blühendem Land ist ihm gegönnt. Dort sollten Menschen in gemeinsamer Arbeit täglich ihren Lebensunterhalt sichern und so in sinnvoller Tätigkeit, in Würde und Freiheit leben. Er selbst sieht sich auf diesem Land „Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn“. Angesichts dieser sozialen Utopie einer solidarischen bürgerlichen Gemeinschaft sagt nun Faust :
„Zum Augenblicke dürft ich sagen:
Verweile doch, du bist so schön!
Es kann die Spur von meinen Erdetagen
Nicht in Äonen untergehn.
Im Vorgefühl von solchem hohen Glück
Genieß ich jetzt den höchsten Augenblick.“
Der entscheidende Satz ist ausgesprochen. Der Pakt ist erfüllt. Mephisto macht sich daran, den Lohn für seine Anstrengungen zu kassieren. Aber es kommt anders. Engel erscheinen und machen Mephisto, seinen „Dickteufeln vom kurzen, graden Horne“ und „Dünnteufeln vom langen, krummen Horne“ Fausts Seele streitig. Sie betören die Teufel durch ihre Lieblichkeit und selbst Mephisto lässt sich blenden: „Die Racker sind doch gar zu appetitlich!“ Die Engel siegen, Mephisto ist der Betrogene. Fausts Seele wird in einer langen, personell aufwändigen Schlusspassage in den Himmel heimgeholt.
Natürlich ist dieser überraschende Schluss Gegenstand verschiedener und auch gegensätzlicher Interpretationen geworden, auf die hier im Detail nicht eingegangen werden kann. Goethe selbst hat zu seinem Sekretär Eckermann gesagt, der Schlüssel für das Verständnis des Schlusses liege im Satz: „Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen.“ Erlösung ist also keineswegs nur der Lohn für ein fehlerloses Dasein, denn es heißt ja im FAUST auch: „Es irrt der Mensch, solang er strebt.“ Eine eher juristisch ausgerichtete Interpretation meint, der Pakt sei dem Wortlaut nach nicht erfüllt, denn das Erlebnis des schönsten Augenblicks sei ja für Faust nicht gegenwärtig, sondern nur ein Vorgefühl, und außerdem habe Mephisto Faust nicht mit Genuss betrügen können. Vor allem sollte bedacht werden, dass Goethe selbst nicht an einen „Himmel“ im Sinne einer naiven christlichen Volksfrömmigkeit geglaubt hat. Schon den Kampf zwischen Engeln und Teufeln um Fausts Seele hat Goethe komödiantisch-parodistisch gestaltet. Die Unsterblichkeit, die Faust erwartet, beruht auf dem unerschöpflichen Gestaltungswillen einer Natur, die alles Geschaffene im immer neuen Gestalten transformiert. Zu Eckermann sagte Goethe: „Die Überzeugung unserer Fortdauer entspringt mir aus dem Begriff der Tätigkeit, denn wenn ich bis an mein Ende rastlos wirke, so ist die Natur verpflichtet, mir eine andere Form des Daseins anzuweisen, wenn die jetzige meinen Geist nicht ferner auszuhalten vermag.“ Tätigkeit ist also der zentrale Begriff, mit dem Goethe den Sinn menschlichen Daseins bezeichnet, und so wird auch verständlich, warum Faust bereits im ersten Teil der Tragödie das Wort „logos“ mit „Tat“ übersetzen wollte. Am Anfang war die Tat!

Literaturhinweise

Bernhardt, Rüdiger: Erläuterungen zu Johann Wolfgang von Goethe: Faust. Teil I, 10. Auflage, Hollfeld: C.Bange Verlag 2010 (=Königs Erläuterungen und Materialien Band 21)
Gaier, Ulrich: Kommentar zu Goethes Faust. Stuttgart: Reclam 2002 (RUB 18183)
Gaier, Ulrich: Johann Wolfgang Goethe. Faust. Der Tragödie erster Teil, Stuttgart: Reclam 2001 (= Erläuterungen und Dokumente, RUB 16021)
Gaier, Ulrich: Johann Wolfgang Goethe. Faust. Der Tragödie zweiter Teil, Stuttgart: Reclam 2004 (Erläuterungen und Dokumente, RUB 16021)
Mittelberg, Ekkehart u.a.: Faust I. Handreichungen für den Unterricht. Berlin: Cornelsen Verlag 2005
Schacherreiter, Christian / Schacherreiter, Ulrike: Das neue Literaturbuch. 65 Fenster zur Literatur. 1. Auflage, Linz: Veritas 2011
Schacherreiter, Christian: Johann Wolfgang von Goethe: Faust I. In: Rainer, Eva u.a.: Klassiker. Unterrichtsmaterialien zu 20 deutschsprachigen Texten von Lessing bis zur Gegenwart. Linz: Veritas 2010, S.12-22
Schacherreiter: Christian: Man muss nur Aug und Ohren dafür haben. Das deutschsprachige Drama von seinen Anfängen bis zur Gegenwart. Teil 1, Linz: Verlag Grosser 1997, S.59-73


Alle Zitate aus „Faust“ sind der Ausgabe des Reclam Verlags entnommen.

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